Die fünf Einladungen

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Die erste Einladung:
WARTE NICHT. Dieser freundlich ausgesprochene Imperativ erinnert uns daran, dass jeder Moment, jeder Atemzug, jede Handlung zählt. Wir lernen, das Wesentliche von sinnloser Aktivität zu unterscheiden. Wir verschieben das, was entschieden und getan werden will, nicht auf den St. Nimmerleinstag. Anstatt auf eine bessere Zukunft zu warten, üben wir uns darin, von Augenblick zu Augenblick in der Gegenwart zu bleiben. Wir lernen, immer etwas weniger an unseren Meinungen und an unseren Vorstellungen von uns und den anderen festzuhalten. Wir öffnen uns. "Die Erfahrung des Nicht-Wartens ist so etwas wie der ununterbrochene Kontakt mit der Wirklichkeit. Wir sind aufmerksam, wach und ganz lebendig."

Die zweite Einladung:
HEISSE ALLES WILLKOMMEN, WEHRE NICHTS AB. Offen und empfänglich zu sein bedeutet, dass wir das, was uns begegnet und widerfährt, wirklich an uns heranlassen. Wir sind ja sehr geübt darin, von vornherein zu sortieren und das Unangenehme zurückzuweisen. Tatsächlich gibt es im Leben mancherlei Erfahrungen, die wir am liebsten an uns vorüberziehen lassen würden oder spontan und mit aller Kraft abwehren möchten - ein Missgeschick, ein Unfall, Krankheit, berufliche Schwierigkeiten, Konflikte und Krisen in Beziehungen, innere Unruhe und Ablenkung. Etwas willkommen zu heissen meint jedoch nicht, einer Tatsache zustimmen oder etwas "gut finden". Es heisst vielmehr: Anerkennen und annehmen, dass dies und das in unser Leben eingetreten ist, dass etwas ist, wie es ist. Erst von da aus können wir etwas in unsere Existenz integrieren und weitergehen. "Diese Einladung bedeutet, dass kein Teil von uns oder unserer Erfahrung ausgelassen werden kann: weder Freude und Wunder noch Schmerz und Angst. Alles ist in das Gewebe unseres Lebens eingewoben. Bejahen wir diese Wahrheit voll und ganz, dann begeben wir uns tiefer ins Leben hinein."

Die dritte Einladung:
GIB DICH GANZ IN DIE ERFAHRUNG. Ganz und vollständig in der Erfahrung sind wir dann, wenn wir auch unsere unerwünschten, unangenehmen Anteile wahrnehmen und annehmen. Unsere Schattenaspekte erlauben uns, den Schwierigkeiten und dem Leiden anderer Menschen nicht nur mit Angst oder Abwehr zu begegnen, sondern friedfertig, mitfühlend. Wir sind mehr als unsere Rollen, unser Können, unser Wissen. Es braucht Mut, authentisch und ganz da zu sein. Authentizität bedeutet, "dass wir benennen, was ist. Dass wir uns zeigen und tun, wovon wir sagen, dass wir es tun werden, dass wir uns an unsere Versprechen erinnern und unsere Vereinbarungen einhalten. (...) Authentisches Tun stellt Vertrauen her."

Die vierte Einladung:
FINDE MITTEN IM CHAOS EINEN ORT DER RUHE
Frank Ostaseski erzählt im Vorspann des Kapitels zur vierten Einladung von Adele, einer zähen, russisch-jüdischen Dame von sechsundachzig Jahren. "Ich hatte die Ehre, die Nacht, in der sie starb, im Zen-Hospiz bei ihr zu sein. Sie sass auf der Bettkante und hatte grosse Mühe mit dem Atmen - jedes Ein- und jedes Ausatmen war ein Kampf." Er schildert, wie eine gutmeinende Schwesternhilfe beruhigend auf Adele einredet: "Sie brauchen keine Angst zu haben, ich bin ja bei Ihnen." Adele schnauzte sie an: "Glauben Sie mir, Schätzchen, wenn Ihnen das passieren würde, hätten Sie auch Angst." Die Pflegerin beginnt dann, Adele über den Rücken zu streichen und sagt zu ihr:"Ihnen ist ein bisschen kalt. Möchten Sie eine Decke?" Adele schoss zurück: "Natürlich ist mir kalt. Ich bin schliesslich schon fast tot!"  Frank Ostaseski merkt, dass die alte Dame weder ihr Sterben verarbeiten will noch an irgendwelchen Sentimentalitäten interessiert ist. Aber sie kämpft mit ganzer Kraft gegen das Sterben. Frank fragt sie: "Adele, möchten Sie ein bisschen weniger kämpfen?" "Ja", nickte sie. "Ich habe bemerkt, dass am Ende Ihres Ausatmens eine kleine Pause entsteht. Können Sie Ihre Aufmerksamkeit für ein Weilchen auf diese Pause richten?", schlug ich vor. Nun interessierte sich Adele nicht die Bohne für Buddhismus, sie hatte nie im Leben meditiert. In diesem Augenblick aber wollte sie nichts mehr, als frei von ihrem Leiden zu sein. Also liess sie sich auf einen Versuch ein. "Ich werde mit Ihnen atmen", sagte ich. Indem es Adele nach und nach gelingt, ihre Aufmerksamkeit auf die Lücke beim Atemwechsel zu richten, weicht der Ausdruck von Angst allmählich aus ihrem Gesicht. Sie atmen noch eine Weile gemeinsam weiter, dann legt Adele ihren Kopf zurück aufs Kissen und kann kurz darauf friedlich sterben.
"Die vierte Einladung lehrt uns, dass wir - wie Adele - einen Ort der Ruhe in uns finden können, ohne unsere Lebensumstände verändern zu müssen. (...) Dieser Ort der Ruhe steht uns immer zur Verfügung. Wir müssen uns ihm nur zuwenden. Wir erfahren ihn, wenn wir ohne jede Ablenkung dem jetzigen Tun unsere volle Aufmerksamkeit schenken." Dieser Raum "manifestiert sich als Aspekt von uns, der nie krank ist und weder geboren wird noch stirbt."

Die fünfte Einladung:
KULTIVIERE DEN WEISS-NICHT-GEIST
"Der Weiss-nicht-Geist" ist nicht durch Pläne, Rollenbilder und Erwartungen begrenzt. Er ist frei für Entdeckungen. (...) Wenn wir schon wissen, was wir tun werden, verengt das unseren Blick. (...) Wir sehen nur, was unser Wissen uns zu sehen erlaubt. Der weise Mensch ist mitfühlend und demütig zugleich und weiss, dass er nicht weiss. (...) Der Weiss-nicht-Geist ist eine Einladung, mit neuen Augen ins Leben zu gehen, unseren Geist zu leeren und unser Herz zu öffnen."

Dieser  Blogbeitrag ist eine Einladung, sich in dieses hinreissend geschriebene Buch zu vertiefen. Es ist als Taschenbuch und als e-book im Buchhandel erhältlich.

- Christophe, 23.12.2025





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